
Die Füße herauszuziehen bedeutet, dass die sanfte Bräune sich in eine matte Blässe verwandelt. Ich springe auf und laufe den Wellen entgegen, die hier immer kraftvoll und fordernd Richtung Strand rollen und dort alles mitnehmen, was sie greifen können – nur um die Hälfte dessen beim nächsten Anrollen wieder auszuspucken: Algen, Muscheln, den Sand, auf dem meine Füße gehen.
Das Wasser ist eiskalt, obwohl die Sonne heiß über mir steht. Der Atlantik ist an dieser Stelle nicht nur erfrischend – er ist nur wenige Sekunden auszuhalten. Und ich bin mit jeder sich zurückziehenden Welle froh, dass sie auch den stechenden Schmerz in meinen Beinen wieder mitnimmt.
Ich laufe am Strand entlang und suche Schätze. Zwischen den vielen, teils zerbrochenen Miesmuscheln, Steinen und Meeresrelikten suche ich nach dem, von dem ich noch nicht weiß, dass ich es suche. Schon immer. Ich fasse Seetang an und stelle fest, dass er sich wie Kunststoff anfühlt – fest und glatt, und kaum zu glauben, dass das Natur ist.
Ecklonia maxima, auch Meeresbambus genannt, ist eine große Seetang-Art, die besonders in Südafrika im Meer wächst. Ein Teil von ihr, der aussieht, als wäre er eine Art Stamm mit Wurzel daran, fühlt sich ebenfalls kaum natürlich an – so hart und fest, so stabil. Aber kein Wunder: Dieser Tang wächst in den rauen Wellen des Atlantiks und muss demnach widerstandsfähig sein, damit er seinem Bestimmungsort entrissen nicht zu früh am Ufer landet.
Was wohl damit passiert?, frage ich mich, alles anfassend, was sonst nur aus der Ferne betrachtet wird. Weil es nicht schön ist, finde ich es umso schöner, beeindruckender, faszinierender.
Irgendwann schwappt eine tote Möwe mit einer Welle an den Strand. Ich erschrecke mich. Der Tod ist immer mit dabei – alles ein irrsinniger Strudel zwischen geboren werden, wachsen, leben, sterben. Ein einzelner Seestern begegnet mir. Ich stupse ihn an.
Ich erinnere mich an einen Moment meiner Kindheit. Ich war vielleicht 13 und habe im Sommerurlaub an der Ostsee Hunderte toter Seesterne am Strand gefunden – und so viele, wie ich konnte, wieder ins Meer geworfen. Damals hatte ich die Hoffnung, dass das hilft, dass sie dort wieder zum Leben erweckt werden – durch das Salzwasser, ihren Lebensraum. Ein paar habe ich mitgenommen und musste sie vor dem Ende des Urlaubs zurücklassen, da ihr Verwesungsgeruch unerträglich war.
Dieser hier lebt nicht mehr. Ich mache ein Foto und gehe weiter. Die Realität löst manchmal die Hoffnung ab.
Und dann finde ich sie: eine kleine, runde, grüne Muschel mit einer Öffnung oben und unten – das Gehäuse eines Seeigels. Unbeschadet und wunderschön. Ich trage den Schatz vorsichtig zurück zum Handtuch und zeige ihn stolz.
Manche Dinge ändern sich nicht. Die Faszination für die Natur und der Blick für – und vor allem die Freude über – die kleinen Dinge nimmt gerade wieder zu. Es lohnt sich, loszugehen, hinzugucken, stehen zu bleiben und auch immer wieder alles anzufassen. Es ist nicht sinnlos, das Tote zu respektieren, kurz innezuhalten und sich an dem Leben, das einst in dem Tier – dem Seestern oder Seeigel – gelebt hat, zu erfreuen und dabei immer wieder ein bisschen mehr die Realität zu erfassen.
Wie klein wir sind im großen Ganzen. Und wie unbedeutend unsere Existenz im Anblick der Größe des Universums und all der Lebewesen in ihm ist. Wenn das keine Angst macht, sondern ein Gefühl von Entspannung und Frieden hervorruft – weil unsere Probleme in diesem Rahmen so viel kleiner wirken, als sie sind –, dann geht es uns ziemlich gut.
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