50 Meter. Das war die Entfernung, die mich eine schöne, gefühlt endlos lange Zeit meiner Kindheit davon trennte, was ich am meisten liebte. Wir wohnten in der Altstadt, Pflastersteine, kleine Mauern, Backsteingebäude, Fußgängerzone. Schräg gegenüber, aus zwei meiner Kinderzimmerfenster zu sehen, befand sich die Stadtbibliothek, ein, vor 20 Jahren noch ziemlich groß erscheinendes, langgezogenes Steingebäude. Efeubewuchs, große, halbrunde Fenster, drei kleine Dachgeschoss Erker, ein Schloss – in meiner Erinnerung.
Sobald ich alleine die paar Meter gehen durfte, ging ich sie. Beinahe täglich. Die Bibliothek war mein zweites Zuhause, eine Verlängerung unseres Zuhauses auf der anderen Straßenseite. Der Spielplatz, den eine 8 Jährige, wie ich, sich wünschte.
Dort sein war: andächtige Stille bereits beim Eintreten, empfangen werden von dem unregelmäßigen Piepen an der Ausleihe, die Schritte gedämpft von Teppichboden, der Geruch von alten und nicht so alten Büchern, durch die langen, verwinkelten Buchregalreihen stöbern, im ersten und einzigen OG die Kinderbücher, unten die Romane. Die Kinderecke in einem der „Erker“, ein paar kleine Sessel, Kassetten, DVDs, CDs. Versinken, verschwinden, abtauchen. Astrid Lindgren und TKKG, drei Fragezeichen und „freche Mädchen, freche Bücher“. Cornelia Funke und die Detektivbücher zum Mitmachen. Die Bibliothekarinnen kannten mich bald beim Namen, eine, die mit der Handschiene, mochte ich am Liebsten. Bei ihr stellte ich mich, wenn möglich, zum Ausleihen an. Piep, piep, piep-piep.
Dort Ankommen und Weggehen hatte immer etwas Magisches, ich ging nach einer halben Stunde, die in Realität 2 waren, mit einem kaum tragbaren Stapel an Büchern und einer Portion Wärme und Wohlgefühl wieder raus. Balancierte den Turm nach Hause und kam dort mit einer Menge Schätzen an, in die ich eintauchen konnte. Die Außenwelt wurde immer kleiner und die im Inneren der Bücher verwuchs mit mir zu immer wilderen, aufregenderen und schöneren Welten, die ich nach und nach betrat, ein wenig verweilte und dann wieder verlies. Loslassen war damals schon nicht so leicht, Geschichten werden zu Freunden, wenn man sie lässt.
Die Geborgenheit der Bücher lies mich oftmals vergessen, welche Haustür am Ende des Tages meine war, ließ mich vergessen, welche Geschichte mein Leben und eröffnete Räume in mir, die seit damals nicht wieder geschlossen wurden.
Maximal angelehnt. Es gab Phasen, da war Lesen nicht so wichtig, da war die Tür zwar nie ganz zu, aber einladend war nichts daran. In den Phasen, erinnere ich mich nicht daran, wirklich ich selbst gewesen zu sein. Die Tür war zu und doch nicht. Ich hatte sie vergessen und mich doch immer wieder erinnert, bei bestimmten Sätzen aufgehorcht, besondere Zitate oder Zeilen erkannt, mich gesehen, in dem was ich nicht geschrieben, nicht gelesen habe.
Lesen und Schreiben sind verbunden, das eine geht ohne das andere nicht. Das Eine geht ohne das andere schon, aber für mich nicht.
Lesen und Schreiben sind wie ein Spiegel auf Papier, das eine zeichnet mich, das andere bildet mich ab.


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